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SABINE MAI SCHREIBT ÜBER KULTURELLE IDENTITÄT

Vom Schulschwänzer zum Gelehrten: Interview mit Johannes Butzbach

Vom Schulschwänzer zum Gelehrten, diese Wandlung durchlebte der Humanist Johannes Butzbach (1477-1516) vor über 500 Jahren. Inspiriert von dessen „Wanderbüchlein“ führt Sabine Mai ein fiktives Gespräch mit ihrem durch diese Lektüre liebgewonnenen „Bruder Johannes“.

Sabine: Johannes Butzbach, du giltst als bedeutender Vertreter des Rheinischen Klosterhumanismus im 16. Jahrhundert. Wusstest du, dass in deiner Heimatstadt Miltenberg ein Gymnasium nach dir benannt wurde?
Johannes: Tatsächlich – ein Gymnasium? Die haben Humor! Meine eigene Schullaufbahn war eher eine Katastrophe. Als ich ernsthaft Latein zu studieren begann, war ich bereits ein junger Mann von 21 Jahren und durch die halbe Welt gereist.

Sabine: Wie kam es dazu, dass ein berühmter Gelehrter, wie du es bist, nicht Latein lernen wollte?
Johannes: Ich war ein sensibles Kind und interessierte mich für vieles, besonders die Natur. Die hölzerne Schulbank war mir ein Graus. Ich verbrachte die Tage lieber am Mainufer, versteckte mich dort in einem Boot. Talent zum Geschichtenerzählen entwickelte ich damals schon, nur wurde das nicht anerkannt.

Sabine: Hat deine Familie dich zum Studium der Künste gefördert?
Johannes: Ja, aber sie verfolgten ihre eigenen Interessen. Der Vater war Weber und wäre gerne sozial aufgestiegen mit mir als gelehrtem Sohn. Jeden Pfennig hat er sich abgespart für meine Karriere. Ich hab‘s ihm nicht leicht gemacht, so musste die Mutter viele Tränen weinen.

Sabine: Erzähl mir bitte vom Drama in der Miltenberger Lateinschule um 1483.
Johannes: Ich erfand immer tollere Geschichten, die mein Fehlen in der Schule erklären sollten. Als ich dann an einem Freitag behauptete, ich hätte einen Fleischtopf zum Kochen aufsetzen müssen, flog der Schwindel auf. Bei der darauf folgenden Prügelstrafe schrie ich so laut, dass ganz Miltenberg mich hören konnte. Die Mutter war außer sich, der Lehrer wurde strafversetzt und ich flog von der Schule.

Sabine: Das hätte ein glückliches Ende nehmen können!
Johannes: Nein, denn der Vater gab sein Vorhaben nicht auf. Eine Lateinschule in Nürnberg sollte es jetzt sein. Er engagierte einen dubiosen Kameraden, der mich dorthin bringen sollte. Da half kein Wehklagen, am Würzburger Tor musste ich der Mutter unter Tränen Lebewohl sagen.

Sabine: Wie alt warst du damals, als du in die Fremde ziehen musstest?
Johannes: Das könnt ihr euch heute gar nicht mehr vorstellen! Allerhöchstens 11 Jahre war ich, als ich nur mit einem Bündel in der Hand die Heimat verlassen musste. Mein Kamerad war ein übler Zeitgenosse. Zuerst nahm er mir mein Geld ab und als wir in der Nürnberger Schule nicht gleich aufgenommen wurden, schickte er mich zum Betteln auf die Straße. Hier begann für mich die Schule des Lebens, meine Wanderjahre.

Sabine: Du bist weit herumgekommen. Wie waren die Städte deiner Zeit?
Johannes: Miltenberg war ein modernes Städtchen. Aber Nürnberg, mit all den Türmen und der Pracht, das kam mir vor wie die ganze Welt. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Leute dort waren sehr modern und wirtschaftlich hervorragend aufgestellt!

Sabine: Konntest die Großstadt für dich erschließen?
Johannes: Nein, das ist mir in diesem zarten Alter nicht gelungen. Auch bin ich bald weitergezogen Richtung Osten bis nach Prag. Statt Latein zu pauken, sammelte ich Almosen und lebte auf der Straße. Das lief ziemlich gut, denn ich war ein hübscher Junge. Das Mitleid der Bäuerinnen war mir stets gewiss.

Sabine: Was war deine schlimmste Erfahrung während deiner Wanderjahre?
Johannes: Nicht Hunger oder Kälte, daran war ich gewöhnt. Der Verlust meiner Freiheit traf mich tief. Ein böhmischer Adeliger raubte mich und ich musste mich als Leibeigener verdingen. Nicht einmal mehr meine Kleider gehörten mir in dieser Zeit. Im tiefsten Elend begann so etwas wie mein „Menschsein“ zu erwachen.

Sabine: Nun bin ich überrascht. Wie kann die Humanistische Denkweise in Gefangenschaft erwachen?
Johannes: Das habe ich mich auch gefragt. Aber die Bedingungen, unter denen ich leben musste, führten mich von selbst dorthin. In der Fremde war ich umgeben von Ketzern, die den Glauben reformieren wollten. Das gefiel mir gar nicht! Ständig hatten wir Angst vor der Pest. Einige Male retteten mich zauberkundige Frauen vor Krankheit. Aber der Gipfel waren die ausbeuterischen Verhältnisse auf den Gutshöfen. Ich musste Kühe hüten, damit der Knecht mit der Kuhhirtin anbandeln konnte, und für meinen Herrn sollte ich junge Mägde anlocken. Irgendwann hatte ich diesen Affenzirkus satt.

Sabine: Für einen Klosterbruder hast du viel erlebt!
Johannes: In all den Wirren kam mir ein Leben als Mönch immer attraktiver vor. Eines Tages packte ich allen Mut zusammen und lief davon, den weiten Weg zurück nach Miltenberg.

Sabine: Wie haben die Miltenberger dich nach der Reise wieder aufgenommen?
Johannes: Die haben nicht schlecht gestaunt über mich, denn ich war erwachsen geworden. Vor ihnen stand ein modisch gekleideter junger Mann mit langen blonden Haaren bis zum Gürtel, glatt gekämmt im Böhmischen Stil. Nur Latein, das konnte ich immer noch nicht. Der Stiefvater wollte mich schnell wieder loswerden, damit ich ihm nicht auf der Tasche liege. Ach ja, und sie gaben keine Ruhe, bis die Haare wieder kurz waren.

Sabine: Und dann wurdest du endlich der berühmte Humanist?
Johannes: So schnell ging das nicht! Ständig pleite, musste ich erst einmal Geld verdienen. Deshalb habe ich so ziemlich alle Jobs gemacht, die es gab, war sogar einmal Metzger. Ich meinte, Schneider könnte etwas sein für mich, weil ich schöne Kleider mochte. Man wird nicht als „Humanist“ geboren, so wie ihr euch das heute nach 500 Jahren vielleicht vorstellt!

Sabine: Wie hast du es dann doch geschafft?
Johannes: Das war eher Zufall. Zuerst war ich nur Laienbruder. Interessanterweise fiel mir das Lernen nunmehr viel leichter. Magisch angezogen vom Zauber der Studierstube erlangte ich aus freien Stücken, was mir mit Gewalt nicht eingetrichtert werden konnte. Ich ergatterte einen Studienplatz in Deventer in den Niederlanden. Von da an ging alles sehr schnell: Ich wurde Novize in Laach, schließlich Priester im dortigen Benediktinerkloster. Weil ich sehr beliebt war bei meinen Brüdern, ernannten sie mich bald zum Prior. Im Kloster konnte ich endlich meine wahre Begabung entfalten.

Du hast alle deine Bücher in Latein verfasst?
Ja, das war so angesagt in meiner Zeit.

Sabine: In deinem Buch „De praeclaris picturae professoribus“ schreibst du auch über Malerinnen!
Johannes: Ihr seid schon seltsam in eurem 21. Jahrhundert, was denkt ihr nur über uns? Dass WIR Machos waren, nur weil IHR heute bevorzugt Männer würdigt? Selbstverständlich halte ich Frauen für künstlerisch begabt. Die Antike liefert hervorragende Beispiele, z. B. Tamyra. Sie soll eine ganz ausgezeichnete Malerin mit wunderbarer Begabung gewesen sein! Oder hätte ich über Albrecht Dürer schreiben sollen? Pfff! Der der eitle Jungstar war gerade einmal ein paar Jahre älter als ich!

Sabine: Welche Errungenschaften der modernen Zeit hättest du gerne für dich genutzt?
Johannes: Ich litt immer schwer unter Trennungen. Ein Smartphone hätte ich daher gerne gehabt, damit ich der geliebten Mutter per WhatsApp hätte schreiben können. Auch eure Medizin wäre mir willkommen gewesen.

Sabine: Was rätst du jungen Menschen heute auf ihrem Lebensweg?
Johannes: Lasst euch nicht beirren von den vielen Angeboten in eurer Zeit. Ihr müsst selbst denken und überlegen, wohin die Reise geht. Wenn euch etwas nicht geheuer ist, dann stellt es auf den Prüfstand. Auch in eurem Jahrhundert gibt es noch Leibeigenschaft, die sieht nur anders aus!

Bruder Johannes, danke für das Gespräch.

Sabine Mai besuchte bis 1986 das nach dem Humanisten benannte „Johannes Butzbach Gymnasium“ in Miltenberg – mit ebenso miserablen Noten im Fach Latein, gefolgt von einem Studium der bildenden Künste. Solche und andere Gemeinsamkeiten erkannten beide in diesem Interview.

Johannes Butzbach mit Sabine Mai in Miltenberg
Heimatbesuch nach 500 Jahren: Johannes Butzbach mit Sabine Mai in Miltenberg am Main.

Abi 1986 am Jonhannes Butzbach Gymnasium

http://www.jbg-abi1986.de/

Beweisfoto: Sabine Mai im Abi 1986. zweite Reihe von unten, Nr. 5 von Links

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